Bis zum einhundertsten Geburtstag war die Welt noch beinahe in Ordnung.
Wahrscheinlich können das viele Hundertjährige bestätigen. Aber danach
wird es manchmal kompliziert.
2011 wurde der Senftenberger
Bergarbeiterchor 100 Jahre alt. Es war ein großes Fest, sehr laut. Sie
waren nicht zu überhören, waren sie eigentlich nie. Vierstimmig, wie
immer, eine harmonisch gebändigte Urgewalt. Ob sie so viele neue Sänger
würden aufnehmen können, wie sich nun endlich melden würden? Aber es
kam: einer.
Der Chor wurde 101, er wurde 102, 103. Niemand
klopfte an. Keiner wollte mitsingen. Wirkt ein Bergarbeiterchor inmitten
des Kohleausstiegs nicht mehr zeitgemäß? Keiner weiß mehr, wer es
zuerst sagte, aber dann sagten es fast alle: Wir hören auf! Corona ist
ohne Frage mit schuld.
Zuerst schloss ihr Probenraum mitsamt der
Begegnungsstätte des Arbeitersamariterbundes. Sie mussten suchen, bis
sie jemanden fanden, der es für eine gute Idee hielt, dass die
Hochrisikogruppe unter seinem Dach Aerosole austauscht. Aufhören?
Natürlich gab es sofort Gegenstimmen: Niemals! Bis zum letzten Atemzug,
das heißt für jeden Sänger: Bis zum letzten Ton! Und nun ist es so weit.
Wenn die Aufhörer recht behalten, ist dies hier ihre allerletzte
Chorprobe.
Sie müssen das Abschiedskonzert für ihre Familien und
Freunde vorbereiten und nach Möglichkeit jeden Ton treffen. Es ist eine
alte Gewohnheit. Die Fraktion der Weitersinger jedoch blickt in eine
nasse Zukunft. Vom Kohlerevier zu Europas größter künstlicher
Seenlandschaft! Was liegt da näher, als künftig Seemannslieder zu
singen? Lausitzer Strukturwandel in Noten.
Es ärgert den
Bergmannschor ohnehin, dass das Hafenfest sie noch nie eingeladen hat,
zumindest nicht freiwillig. Immer hat die Stadt darauf bestanden, dass
sie mitmachen. Eine Kohletruppe am Strand? Hat man da nicht gleich
wieder den öligen Rußfilm vor Augen, der früher auf dem Wasser schwamm?
Die
Hauptstadt des Lausitzer Braunkohlereviers liegt schon seit 1973 am
Strand. Damals war aus dem ersten, alten Tagebau ein See geworden, der
Senftenberger See. Am Senftenberger See wurde man immer viel schneller
braun als anderswo: so rußbraun wie die weiße Wäsche auf der Leine.
Vorbei.
Und nun laufen ringsum die Tagebaue voll. Manchmal haben
sie schon seltsame Melodien im Ohr: „Ein Wind weht von Süd und zieht
mich hinaus auf See/Mein Kind, sei nicht traurig, tut auch der Abschied
weh …“
Im Kleingartenvereinsheim „Zur Harke“ warten schon die
ersten Sänger. Hans-Jürgen Arndt ist bald 80 Jahre alt, wie die meisten
hier, er geht seit 1968 jede Woche zur Chorprobe: „Da war ich 24.“
Natürlich sang auch sein Vater im Chor. Das sei immer so gewesen, sagt
er: Die Väter brachten ihre Söhne mit. Keine Nachwuchsprobleme, nur
Nachwuchsstolz. Aber der Senftenberger Knabenchor gab schon 2004 auf.
Chorleiter Peter Apelt fasst die Tendenz mit kulturkritischer Schärfe
bergbauübergreifend so zusammen: „Das Singen unter Männern nimmt ab.“
Eigentlich ist Apelt Klavierstimmer und auch am Cottbuser Theater dafür
verantwortlich, dass die Instrumente richtig klingen.
Ein
musikalisches Vermächtnis des Braunkohlereviers Lausitz wird wohl
bleiben, aber wahrscheinlich wird es sich mehr mit dem Namen Gerhard
Gundermann verbinden. Gundermann, „der singende Baggerfahrer“. „Der war
drüben im Tagebau Spreetal!“, sagen die Sänger und heben ihre Biergläser
wie zum Gedenken, obwohl Liedermacher Gundermann und sie doch
verschiedene musikalische Universen bewohnten.
Aber dass der
Mann bei allem musikalischen Erfolg auf seinem riesigen
Schaufelradbagger geblieben ist, nötigt ihnen Achtung ab. Vielleicht hat
Gerhard Gundermann auch die kürzeste Geschichte des ganzen Landstrichs
erzählt: „Ach, meine Grube Brigitta ist pleite/Und die letzte Schicht
lang schon verkauft/Und mein Bagger, der stirbt in der Heide/Und das
Erdbeben hört endlich auf.“ Nach Andreas Dresens Gundermann-Kinofilm
haben das viele im Ohr. Dieses vollkommen Gegensätzliche, Unvereinbare
in einem Satz: Nach mehr als einem Jahrhundert endlich wieder Ruhe
über’m Land, obwohl man sie kaum aushält.
Im Herbst 1924 ging in
der Lausitz die erste Abraumförderbrücke in Betrieb. Ein Rieseninsekt
in der Landschaft. So etwas hatte die Welt noch nicht gesehen. Damals
fing die Lausitz an, Avantgarde zu sein.
Der Raum füllt sich.
Die meisten bestellen ein Bier, manche dazu Schnitzel mit
Kartoffelsalat. Ein alter Mann, tief gebeugt, lehnt seine Gehhilfen an
den Tisch. Dass man nicht mehr laufen kann, gilt hier nicht als
Entschuldigung, nicht zur Chorprobe zu kommen. Peter Apelt schaut auf
die Uhr und hebt die Hände, als wolle er den ersten Takt vorgeben. Der
Saal verstummt. Er habe nicht gewusst, beginnt Apelt, unter welchem
Namen er das Liedgut dieser Probe speichern sollte, schließlich habe er
„Bergmannschor Ende“ eingegeben. Keiner sagt etwas.
„Singen wir
das Trinklied!“, schlägt der Chorleiter vor. Es wird nicht das einzige
bleiben. Das zweite Stück beginnt: „Wie könnte denn heute die Welt noch
besteh’n/wenn keine Bergleute wär’n?“
Wollen ihre eigenen Lieder
sie verhöhnen? Sie sind 15 Mann an diesem letzten Probentag, zu ihren
besten Zeiten waren sie mehr als 40. Gefragt, was das Bergmannslied
ausdrücke, haben sie eben noch wie aus einem Mund geantwortet: Stolz!
Stolz auf eine schwere Arbeit, für die es ganze Kerle braucht. Wie für
die Seefahrt.
Zwei Milliarden Tonnen Braunkohle wurden in der
Lausitz seit Mitte des 19. Jahrhunderts gefördert. Die Bergleute lehnen
es ab, sich von den eigenen Liedern aus der Fassung bringen zu lassen.
Doch das nächste Stück ist auch nicht besser: „Glück auf, ihr Bergleut’,
es wird noch alles gut.“ Es ist zum Heulen, Gott sei Dank recht schwer,
da muss man sich konzentrieren. „Ihr könnt jeden zweiten Ton schwächer
singen, dann wird es leichter!“, ruft der Chorleiter.
Und dann
hebt die Decke des Kleingarten-Vereinsheims „Zur Harke“ ab. Der
Freiheitschor aus „Nabucco“ bricht alle Ketten. Sie klingen, als hätten
sie 150 Jahre Sklaverei hinter sich, säßen im babylonischen Exil
gefangen und sehnten sich nach Israel. Apelt: „Jetzt kommt der schwere
Ton: hoch! hoch! höher!“ – und sie singen ganz oben, bevor sie jäh
abfallen. Eine alte, wohlbekannte Zufriedenheit legt sich auf die
Gesichter: Das macht ihnen so schnell keiner nach.
Verdis
Freiheitschor ist natürlich kein Bergmannslied, und Bergleute sollten
nach Möglichkeit keine Freiheitslieder singen, auch darum wurde der
Bergmannschor einst gegründet, und zwar in Marga, gleich neben
Senftenberg. Es war eine Idee des Vorstands der Ilse-Bergbau AG, weiß
Hans-Jürgen Arndt. Wer „Glück auf! Glück auf!“ singt, macht keine
Revolution, der singt nicht die Internationale.
„Ich bin in
Marga geboren“, sagt Arndt und es liegt eine große Würde in dieser
Auskunft. Denn Marga war immer etwas Besonderes. Ein Arbeiterparadies
bald nach 1900. Eine Villenkolonie für Proletarier, wo gab es das sonst?
Marga war Avantgarde genau wie der Chor.
So wie heute über
artgerechte Tierhaltung nachgedacht wird, dachte man damals über
angemessene Arbeiterunterkünfte nach, nachdem die überfüllten
Elendsviertel der großen Städte zunehmend Anstoß erregten. Und wer da
überhaupt noch sang, sang meist Freiheitslieder: „Völker, hört die
Signale/auf zum letzten Gefecht!“ Wie wäre es, wenn man statt des
gefährlichen, rebellischen, streikenden Arbeiters den rundum zufriedenen
Arbeiter schaffen würde?
Zeitgenossen sprachen von der
„baukulturellen Erlösung des Proletariats“, aber wohl kaum jemand ging
darin so weit wie die Ilse-Bergbau AG. „Wir hatten eine Ziege, ein
Schwein und Hühner. Stall und Garten gehörten zu jedem Haus“, sagt
Arndt. Die Ilse-AG formulierte das 1938 so: Der „aus bäuerlichen
Familien kommende Gefolgsmann“ sollte so beheimatet werden, dass er
neben seiner Arbeit „mit Grund und Boden in Verbindung blieb“. Keine
schlechte Idee. Gartenarbeit statt Revolution, und abends Singen im
Chor. Stolz und Gemeinschaft. Die Gartenstadt Marga neben der größten
Grube weit und breit und ihren Brikettfabriken war ein in sich
geschlossenes, nahezu vollkommenes Universum. Sie hatte sogar einen
Kindergarten, lange vor Anbruch der DDR. Und historische Vorkommnisse
wie die DDR sollte Marga eigentlich verhindern.
Das Letzte, was
von ihr an Ursprungsleben bis zu diesem Abend übrig ist, ist der Chor.
Offiziell heißt er Bergarbeiterchor Brieske e.V. nach dem Dorf, das
schon vor Siedlung und Grube da war.
Kurz nach der Wende wurde
die Grube Marga geschlossen, die zwei Brikettfabriken wurden abgerissen.
Die Bewohner des einstigen Arbeiterparadieses saßen plötzlich auf dem
Trockenen, oder nein, falsches Bild: Sie spürten vielmehr den Wellengang
des Lebens wie nie zuvor. Waren sie nicht wie auf hoher See und kein
Hafen weit und breit?
Nun kann man hier fast nirgendwohin
laufen, ohne auf Wasser zu blicken. Die Männer fortgeschrittenen Alters
sind inzwischen ein paar Lieder weiter „… und er küsst sie auf den
Mund/und die Mannschaft ruft im Chor/oh-hej, oh-hej, der Teufel fährt
zur See/wir fahr’n nach Baltimore“. Das Akkordeon macht viel Wind.
Wolfgang Kuler kann alles spielen, auch Saxophon und Klarinette, aber
hier passt nur Akkordeon. Das aber muss sein, es gibt keine Shantys ohne
Akkordeon.
Der frühere DDR-Kombinatsdirektor Gerd Rückert, der
gleich nach der Wende sieben vormals volkseigene Brikettfabriken, drei
Tagebaue und zwei Kraftwerke unter sich hatte, ruft quer über die
Tische: „Was singt ihr denn? Die Stimme, die ihr singt, gibt’s gar
nicht!“ Die Kritisierten am anderen Ufer des Vereinsheims „Zur Harke“
schauen betroffen. Sie sind es nun einmal gewohnt, vierstimmig zu
singen, Bergmannslieder sind vierstimmig und Shantys eigentlich viel zu
einfach für einen Bergmannschor, nur zweistimmig, aber Spaß macht es.
Shantys
wurden zur Arbeit gesungen, Bergmannslieder dagegen vor allem vor oder
nach der Arbeit. Gemeinsam haben beide, dass ihre Sänger – wie Menschen
überhaupt – im Grunde weder in den Bauch der Erde noch auf ihre großen
Wasser gehören, weshalb es nie ganz gewiss ist, ob ein Bergmann oder ein
Matrose wieder nach Hause kommt. Beide singen nicht zuletzt Lieder
gegen die Angst.
„… wir lieben die Stürme … hejo, hejo, hejo,
ho-ho, hejo!“ Der Chor der Achtzigjährigen nimmt große Fahrt auf. Und
die wollen aufhören?
Seltsam, auch die Seemannslieder müssen sie
gar nicht mehr lernen, die können sie schon. „Wir sind Piraten und
fahr’n zu Meere …“
Dem Küstenwind verdanken sie den wohl größten
Erfolg der letzten Jahre, denn 2018 fragte die Neue Bühne Senftenberg
den Bergmannschor, ob er nicht Lust hätte, bei ihrem Spektakel zu
Shakespeares „Sturm“ mitzumachen. Orkan, Schiffbruch, Insel und so
weiter. Sie müssten aber ordentlich Wind in die Segel kriegen. Es gab
wie immer bei den Senftenberger Spektakeln parallele Vorprogramme, das
Publikum konnte von einem zum anderen gehen. „Aber bei uns war es immer
am vollsten“, sagt der organisatorische Chorleiter Klaus-Dieter Schulze,
den sie früher nur BummBumm-Schulze nannten, denn er war
Bergbau-Sprengmeister.
Mehr als zehn Mal haben sie den „Sturm“
gemacht, ihnen wurde so maritim zumute. Singend erfuhren sie, was es
heißt, vor dem Wind zu kreuzen. „Fahr mich in die Ferne, mein blonder
Matrose …“. Ferne? Natürlich. Das südliche Ende des Senftenberger Sees
hieß schon immer „die Südsee“, damals, als wahrscheinlich jedem
DDR-Bürger klar war: Niemand von ihnen würde sie jemals sehen. Und sie
surften und segelten, als hätten sie nie etwas anderes getan.
Ursprünglich
gab es hier weit und breit überhaupt keinen See, bloß Teiche und
Sümpfe. „Lausitz“: Das slawische Ursprungswort Luzica heißt
„Pfützenland“. Einer der ersten, der über die Lausitzer Kohlegruben
Boote gleiten sah, assistierte schon Hitlers Autobahnbau als
„Landschaftsanwalt“. Otto Rindt überlegte, wie das dort abgetragene
Erdreich am besten wiederverwendbar sei: etwa in See-Hügel-Landschaften.
Später hatte er die Vision der Lausitzer Seenkette und überzeugte
bereits die DDR-Kohle-Kombinate, gewissermaßen maritim zu baggern: Bitte
keine Kliffe, keine Rutschungsgefahr, aber gern künstliche Inseln, und,
besonders wichtig, an die badegerechten Abflachungen denken, auch
Strände genannt. Der Chor singt: „Es trinken die Matrosen/von allen
Spirituosen/m liebsten Rum, vallera.“
Die größte künstliche Wasserlandschaft Europas entsteht hier, 25 Seen, durch Kanäle miteinander verbunden.
Andere
Gewässer datieren ihre Geburtstage auf das Ende der letzten Eiszeit. 10
000 Jahre plus. Der Senftenberger See als Senior unter all den neuen
ehrgeizigen Pfützen ringsum, 1200 Hektar groß, wird im nächsten Jahr 50
Jahre alt. Wenn da einer singen muss, dann ist es der Senftenberger
Bergmann-Shanty-Chor Brieske e.V., genauer, sein Nachfolger. Den Namen
haben sie schon: die Kohle-Skipper.
Beitrag von Kerstin Decker in den "Potsdamer Neuesten Nachrichten".